Unsere morgendlichen Autogespräche gehören für mich mittlerweile zu den wichtigsten Momenten am Tag. Wir haben 17 Minuten nur für uns. Nach dem stressigen Fertigmachen, Zähne putzen am Waschbecken ist auch nach vier Jahre für einige Mitbewohner eine wahre Folter, und den ständigen Diskussionen um Unterhosen, Socken, Mützen, Brotdoseninhalte und weiteren lebensnotwendigen Kriegsschauplätze, sind diese Gespräche wichtig für uns.
Das Kalinchen hat ein gutes Gespür für ihre Umwelt und relevante aktuelle Themen. Sie hinterfragt oft Dinge, von denen ich nicht erwarten würden, dass 4-jährige sich über so etwas Gedanken machen würden. Wir diskutieren über das Christkind, den einen doofen Jungen aus der Kita, der alle kaputt schießen will, die Party in der neuen Wohnung für ihre Freunde und Fragen, die sie gerade brennend interessieren. Dann will sie wissen, warum ihre Brüste noch nicht gewachsen sind, warum Mädchen keinen Penis haben, warum wir uns im Winter warm anziehen müssen und warum der Winter Winter heißt. Warum man Nachnamen hat, warum manche Menschen den gleichen Vornamen haben. Wie ich heiße wenn sie mal ein Kind hat, warum sie noch kein Auto fahren darf und überhaupt. Neuerdings aber, thematisieren wir das Weltgeschehen.
Kurz nach den Weihnachstferien saßen wir morgens im Auto und da war sie: die Frage vor der ich mich als Mutter lange gefürchtet habe. “Mama, warum ist ein Mann mit einem Laster über den Weihnachtsmarkt gefahren und hat ganz viele Menschen tot gemacht? Das darf man doch gar nicht.” Bumms. Wie erklärt man einem Kind Dinge, die man selbst nicht verstehen oder nachvollziehen kann.
Im ersten Moment wusste ich gar nicht, ob diese Autofahrt der richtige Moment für so ein schweres Thema ist. Ich wusste auch nicht, woher sie weiß, was in Berlin passiert.
“Sag mal Kalinchen, woher weißt du das denn?”
“Ach Mama, das hat der Papa mir erzählt. Und ich hab das auch in der Kita gehört. Der L. fand das total witzig, der mag ja Menschen kaputt machen. Ich find das aber glaub ich nicht witzig”.
“Ähm ne. Das ist auch überhaupt gar nicht witzig. Das ist ganz schrecklich und schlimm. Du weißt ja, dass ich es schon schlimm finde, wenn du haust und mit den Füßen treten willst. Und jemanden mit einem LKW zu überfahren ist ganz ganz schlimm.”
“Ja, ich weiss Mama. Aber warum hat der das denn dann gemacht?”
“Puh, das ist gar nicht so einfach zu sagen. Es gibt Menschen, die glauben, dass es richtig ist, wenn man jemanden überfährt oder mit einer Waffe erschießt. Für sowas muss man dann in das Gefängnis.”
“Das weiss ich doch, Mama. Deswegen findest du Waffen ja auch so doof. Dann hat der sich aber gar nicht an die Regeln gehalten. Bekommt der jetzt Ärger? Kommt da jetzt die Polizei? Du musst dem das mal sagen, man darf doch nicht so böse sein.”
“Ach Spätzchen, wenn ich das könnte, würde ich das sofort machen. Die Polizei war natürlich sofort da. Es gibt auf der Welt eben liebe Menschen, die sich an die Regeln halten und Menschen, die sich nicht an die Regeln halten. Dafür gibt es dann die Polizei und das Gefängnis. Tust du mir denn einen Gefallen?”
“Was denn, Mama?”
“Kannst du bitte nie wieder hauen, treten oder so viel schlimme und böse Wörter sagen? Wenn jeder Mensch lieb zu anderen ist, dann wird unsere Welt ein klein bisschen besser.”
“Aber manchmal bin ich so sauer. War der Mann auch sauer?”
“Das weiss ich nicht. Ich kann ja nicht in seinen Kopf gucken.”
Nach diesem Satz standen wir auf dem Parkplatz der Kita. Das Kalinchen stieg aus, schaute mir in die Augen und nahm mich in den Arm. “Weißt du Mama, ich hab dich und den Papa am Liebsten, ich bin jetzt auch nicht mehr so böse.”
Ich musste auf dem Weg zurück nach Hause lange über das Gespräch grübeln. Ist es richtig, offen mit Kinder zu sprechen? Oder aber sollen Kinder in Watte gepackt werden? Wir haben uns für offene Gespräche entschieden. Das Kalinchen soll in aufbereiteter Weise, das Weltgeschehen mitbekommen. Natürlich werden wir nicht jedes Thema hier thematisieren. Sie weiss aber zum Beispiel, dass der neue Chef in Amerika nicht ganz koscher ist und, dass wir in Deutschland auch einen neuen Chef wählen müssen. Sie weiss auch, dass es Krieg gibt und Menschen aus anderen Ländern flüchten müssen, um nicht zu sterben. Das Thema Flüchtlinge ist imminent zwar nicht mehr so aktuell für sie, sie weiss aber, dass Krieg schlimm und traurig ist.
Meine Eltern haben immer offene Gespräche mit uns gesucht. Wir wurden immer aufgeklärt, durften uns eine Meinung bilden und diskutieren noch heute aktuelle Themen. Ich finde das sehr wichtig. Ich möchte als Teil der Gesellschaft eine Meinung haben, dazu muss ich mich aber informieren. Und so sehe ich auch meine Aufgabe als Mutter: das Kalinchen muss von uns auf das spätere Leben vorbereitet werden.
Ich bin gespannt, was sie morgen im Auto zu berichten hat…
FrauRaufuss
1 comment
Du triffst es wirklich auf den Punkt. Meiner Meinung nach sollte man es Kindern genau so erklären. “Einfach” die Wahrheit in halbwegs kindgerechter Form. Mahnmal denke ich, dass genau diese Antworten aus der Kindheit einen doch sehr stark prägen und vielleicht auch ein bisschen das spätere Bauchgefühl beeinflussen. Abgesehen davon ist es natürlich schwieriger, es Kindern so zu erklären als ihnen eine schöne heile Welt vorzugaukeln aber was würde das denn bringen? Irgendwann bekommt ja jedes Kind mit, was in der Welt so schlechtes passiert und dann weiß es gar nicht mehr, was es davon halten soll.
Ich musste bei deiner Beschreibung des Berlin Attentats daran denken, wie ich als 3 Jährige am 11. September mit meiner Oma vor dem Fernseher saß und fragte “Was machen die da?” Worauf meine Oma erwiderte “Die machen alles kaputt”.