Es ist Mittwoch, der 9. November 2016 und ich liege mit meiner Tochter kuschelnd im Bett. Ihr Tag war lang, anstrengend und anscheinend nicht so erfolgreich. Mein Tag war stressig, nass, anstrengend, nervig, überflüssig und ich bin gerade einfach nur müde und ko. Zur Feier des Tages liegen wir im Jogger unter meiner Elch-Bettwäsche und genießen die Klassiker von Astrid-Lindgren. Gerade laufen die Kinder aus Bullerbü.
Ich ertappe mich dabei, wie ich in meinen Gedanken unsere Koffer packe und mir ein Leben in Bullerbü vorstelle.
Was ist nur los mit unserer Welt?
Der 9. November ist das geschichtsträchtigste Datum unserer bisherigen Geschichte. 1918, 1923, 1938 und 1989 passierten Dinge, die das Leben unserer Vorfahren und unser eigenes veränderten. Als ich heute morgen zur Uni ging, musste ich an Alexander Lebenstein. Alex musste in der Reichspogromnacht zuschauen, wie die Synagoge und viele Häuser von Freunden niederbrannten. Er lag auf einem kleinen Hügel und versteckte sich vor den Nazis. Jeden Tag wenn ich durch die Stadt laufe und an den vielen Stolpersteinen vorbeikomme, muss ich an ihn denken. Ich muss an seine Worte denken, die er mir kurz vor seinem Tod, bei unserem letzten Telefonat, mitteilte: “Deine Aufgabe im Leben ist eine ganz einfache. Du musst dafür sorgen, dass so etwas nie wieder passiert. Du musst dafür sorgen, dass die Menschen nicht mehr rassistisch denken und endlich aufhören fremdenfeindlich zu sein. Das ist nicht nur deine Aufgabe, dass ist die Aufgabe der ganzen Menschheit. Und du musst mir versprechen, dass du deinen Kindern von mir und meiner Geschichte erzählen wirst, dass du sie aufklärst und offen mit ihnen sprichst.”
Wisst ihr, ich habe schon oft versucht mit dem Kalinchen über aktuelles Weltgeschehen zu sprechen. Gerade heute morgen erklärte ich ihr, dass in Amerika ein Mann Chef geworden ist, der gemein, böse und frauenfeindlich ist. Ihr Antwort:” Mama, dann red du mal mit dem. Du kannst doch gut Streit lösen und möchtest immer allen helfen.” Wie macht man seinem Kind klar, dass man nicht weiss wie es in der Welt weitergeht? Wie macht man sich selber klar, dass wir vor einer großen Aufgabe stehen? Und drittens, wie werde ich meiner Arbeit als Lehrerin nachgehen, wie offen kann ich dieses Thema behandeln?
Es gibt nur eine Antwort: Ich muss offen Ängste, Sorgen und Vergangenes thematisieren. Das Kalinchen wird irgendwann die ganze Geschichte von Alexander hören. Es gibt wenige Momente in meinem Leben die mich geprägt haben. Aber jede Minute, die ich mit Alex verbringen durfte, macht meine Erinnerung wertvoller. Ich werde auch meinen Schülern von ihm erzählen. Ich bin fest davon überzeugt, dass es meine Pflicht ist, meine Tochter dazu zu erziehen, einen eigenen Geist zu entwickeln. Sie soll selbstständig denken und eine eigene Meinung haben. Sie soll wissen, wie viel Unheil unser Land aushalten musste und wie viel Unheil Menschen anderen Menschen angetan haben.
Eine sehr schlaue Frau, meine alte Deutschlehrerin die ich bis heute sehr schätze, hat mir einmal gesagt, dass es nicht ihre Aufgabe ist, Wissen in Schülerköpfe zu hämmern. Es geht darum, dass Kinder zu Denkenden und Nachfragenden Wesen erzogen werden. Wesen, die sich ihre eigene Welt erschließen und an das Gute glauben.
Und nun liege ich hier, mit meinem Kind. Wir haben ein Dach über dem Kopf, können uns jeden Tag etwas Warmes kochen, tragen warme Kleidung, haben Spielsachen, viel Materielles. Wir führen ein privilegiertes Leben. Ich darf meine Meinung frei äußern, habe ein Wahlrecht, darf mir mein Studienfach selber aussuchen und große Wissenschaftler kritisch hinterfragen. Ob ich das in einigen Jahren noch darf? Wird meine Tochter in dieser bunten Welt aufwachsen, so wie ich? Wird sie ihre Meinung frei äußern dürfen?
Manchmal überkommen mich meine Gefühle und ich zweifle ernsthaft an unserer Gesellschaft. Dann schäme ich mich für rassistische Äußerungen und denke an Alex. Er hat seine ganze Familie verloren und niemals, wirklich niemals daran gezweifelt, dass der Mensch schlecht ist. Er hat es sich zur Aufgabe gemacht die Menschen aufzuklären und Fremdenfeindlichkeit zu unterbinden.
Alex, du fehlst.
Wie gerne würde ich jetzt in Bullerbü wohnen.
frauraufuss
4 comments
Ich finde diese momentane Panik-Mache bezüglich Trump total kontraproduktiv. Es ist wie es ist und auch in ihm muss etwas Gutes stecken. Daran sollten wir glauben und ihm keinen Hass schicken. Hass erzeugt gegen Hass.
LG Ella
Ich schicke ihm keinen Hass, ich möchte nur thematisieren, dass sich unsere Welt verändert…
Mir kommt auch oft der Gedanke, in welcher Welt unser Sohn wohl aufwachsen wird und ob er eine unbeschwerte Kindheit haben wird und ob die Welt/Gesellschaft schlechter geworden ist…
und auch wenn ich darauf keine Antwort weiß, hilft mir zu wissen/mich daran zu erinnern, dass ich sagen kann, dass ich eine schöne, unbeschwerte und glückliche Kindheit hatte und es zu der Zeit die Welt auch nicht sicher/schön etc war.
Zu der Zeit war der Kalte Krieg in den letzten Zügen/die Katastrophe in Tschetbobyl verunsicherte die Welt/die RAF verübte Anschläge etc.
Das war wahrscheinlich für unsere Eltern auch nicht einfach und ich hatte trotzdem eine tolle Kindheit. Ich hoffe, dass ich das unserem Sohn auch ermöglichen kann. Ihn über die Geschehnisse in der Welt zu informieren, ihn aber trotzdem eine unbeschwerte Kindheit zu ermöglichen.
LG
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